Die Strategie der neuen EU Kommission für die Jahre bis 2027 – ohne Geburtsfehler?


Wie glaubwürdig ist sie gemessen an den Möglichkeiten der EU und ihren Erfahrungen aus dem letzten Sextannium

Geburtsfehler erkennbar?

Strategien sind Absichten bezüglich der Zukunft. Sie sind der Ausdruck eines Willens, rational zu gestalten. Das ist gut. Aber wie gut sind Strategien? Strategien, ohne die Erkenntnisse der Vergangenheit zu würdigen und die eigenen Möglichkeiten realistisch einzuschätzen, haben Geburtsfehler. Hat man das berücksichtigt?

Vielleicht hilft zunächst ein Blick zurück:

Strategie 2014
Bilanz der Strategie 2014

Wie sind die letzten sechs Jahre gelaufen?

Die erste Erkenntnis ist, die Kommission hat bestenfalls 50% der künftigen Anforderungen in ihrer Strategie 2014 erfaßt. Ist das schlecht? Ja und Nein. Ja, weil sich vieles angedeutet hat, wie die Migration und man handelte nicht. Nein, weil plötzlich auftauchende Probleme die Aufmerksamkeit in Anspruch genommen haben. So schlecht war „die EU“ gar nicht im Management plötzlich auftretender Unannehmlichkeiten. Bedenke man immer, dass sich mindestens vier Meinungsblöcke einigen müssen inclusive der – meist - Solotänzer Frankreich und Deutschland. Und das bedenke man auch, wenn man die neuen „Prioritäten“ bewertet, wie ich das tun werde.

Schlussfolgerung

Das Unvorhergesehene bestimmte die Agenda! Wird das auch künftig so sein? Eigentlich nicht: Klima und Migration sind als Megathemen angekommen. Viel Schlimmeres kann nicht kommen, ggf. eine Krise ähnlich 2007. Da haben wir dazugelernt. Was sein könnte, dass infolge des Brexit - Türkei ist auch nicht in der EU - jene Auftrieb erhalten, die propagieren, dass ein Austritt aus der EU nur halb so schlimm sei als von Brüssel behauptet ...

Wichtige Denkrichtungen für die Kommission

Zwei Stoßrichtungen sind zu unterscheiden: Erstens wie kann die EU in ihrem engeren Aufgabenbereich, nämlich die Agenden der Artikel 3 (alleinige Verantwortung) und Artikel 4 AEUV (geteilte Verantwortungen), erfolgreich agieren. Zweitens, wie kann die EU auf die Megaströmungen der Weltpolitik und der sozial-ökonomischen Entwicklungsströme wirklich Einfluss nehmen. Entspricht das neue „EU-Regierungsprogramm" dieser Logik? Daran schließt sich auch gleich die Frage:

Woran könnte man ein Regierungsprogramm messen?

  1. A Daran, ob sich die Nöte der EU Bürger darin abbilden.
  2. B Sind die Programmpunkte auch von der Kommission wesentlich beeinflußbar?
  3. C In aller (Un)-Bescheidenheit, entsprechen sie meiner Sicht der Notwendigkeiten?

Das Regierungsprogramm von von der Leyens Kommission folgt sechs Prioritätenclustern

  1. Ein europäischer Green Deal: Erster klimaneutraler Kontinent werden
  2. Eine Wirtschaft im Dienste der Menschen: Soziale Gerechtigkeit und Wohlstand
  3. Ein Europa für das digitale Zeitalter: Aktive Teilhabe mit einer neuen Technologiegeneration
  4. Förderung unserer europäischen Lebensweise: Schutz unserer Bürger und unserer Werte
  5. Ein stärkeres Europa in der Welt: Festigung der verantwortungsvollen globalen Führungsrolle Europas
  6. Neuer Schwung für die Demokratie in Europa: Förderung, Schutz und Stärkung unserer Demokratie

Vergleichen wir:

A Sehen wir uns an, was denn die EU Bürger am meisten bedrückt (eurobarometer Herbst 2019, Standard-Eurobarometer 92 Herbst 2019), die top 6 Themen daraus

  1. Einwanderung
  2. Klima
  3. Wirtschaftliche Lage
  4. Terrorismus
  5. Öffentliche Finanzen
  6. Umwelt

Für mich gibt es da doch einen auffälligen „Missmatch“.

B Wie ist das Programm, gemessen an den Wirkmöglichkeiten der EU, dazu folgende Darstellung (Meine Erkenntnisse):

Wirkraft EU
Wirkkraft EU und neues Kommissions-Programm

Hier sehe ich zu viele Inkonsistenzen.

C Meine Sicht nach mehrjähriger Beschäftigung mit der EU: Themen, die wirklich von der EU selbst beeinflusst werden können:

  1. Den Binnenmarkt ausbauen und funktionsfähig halten.
  2. Eine Antwort auf das Migrationsthema: Beitragskonzept sowie Verteilungsschlüssel.
  3. Interne Reformen angehen – die Lehren aus dem Brexit ziehen, bzw. das Junckersch‘e Modell 4: Weniger EU aber die effektiver; Einstimmigkeit in Kernthemen abschaffen. Verteidigungskonzept festlegen.
  4. Zukunftstechnologien: Großzusammenschlüsse vorantreiben, in Kerngebieten nach dem Modell „Airbus“ entsprechende Zusammenschlüsse ermöglichen.
  5. Mehr Steuergerechtigkeit bei global agierenden Konzernen, Bankenunion vollenden.
  6. Außenhandel: Seidenstraßenprojekt: China zu local content in der EU verpflichten, Handelbilanzüberschüsse gegenüber EU deutlich abbauen. WTO Regeln weiter entwickeln.

Hierzu Daten zur Stoßkraft Chinas im Außenhandel, in Milliarden € 2019. 11 Monate hochgerechnet auf Gesamtjahr: 2019 Exporte China nach den USA : 457 ; Chinas Überschuss: 350; Exporte Chinas nach der EU (o.Deutschland): 345; Chinas Überschuss: 217 .

Auch so gemessen ist das "Regierungsprogramm" nicht sehr schlüssig.

Fazit:

Wenn man die EU wirklich kennt und ihren (weitgehend noch national sozialisierten) Charakter als Wesen sui generis begriffen hat und zum zweiten begriffen hat, dass der Friede den die EU geschaffen hat, das höchste Gut für uns Europäer ist, dann muss man Nachsicht walten lassen, sogar herzlich dankbar sein.

Was für mich ohne Wenn und Aber zu kritisieren ist

Dass Dinge, die sie wirklich beeinflussen kann, kaum genannt werde. Zum Zweiten, dass Reformbestrebungen, die eigentlich auf Herrn Junckers „Fünf-Szenarienpapier“ endlich angegangen werden müssten, vor allem Szenario 4 – "Weniger EU, aber effizienter" aus 2017, gar nicht vorkommen. Zum Ditten, das fehlende Thema Migration. Und: wo bleibt ein Wort zu Verteidigungskonzepten der EU? Das sind für mich schwere Mängel.

Ich trete hier auf als einer jener Bürger, deren Motivation für die EU eigentlich den Kitt für die EU abgibt. Das sollten jene, die die EU kommunikativ darstellen, nie vergessen. Schlechte Kommunikation - oder ist es gar schlechte Prioritätensetzung - hilft nur den linken und rechten Rändern. Nehmen man das nicht auf die leichte Schulter in Brüssel.

Quellen:

Außenhandel eurostat, comext

eurobarometer, Herbst 2019

"Regierungsprogramm" der Kommission, wie im Internet veröffentlich.

SZ dazu vom 01.01.2020 online

Meine Recherechen seit 2015 zur EU

Dr. Johannes Rauter 06.02.2020