Die Flüchtlingsschwemme, die Diskussion um den Brexit, das Erstarken der Rechten: die Katastrophe? Nein, so ist das Leben in dieser Welt. Es ist wichtig dass die EU - als niemals vollendetes Bündniswerk - begriffen wird und man froh sein sollte, wenn sie heftig in Frage gestellt wird. Denn nur das lässt den Wesenskern sichtbar werden: Es müssen alle immer wieder überzeugt werden, dass der Gestaltungsanspruch der EU mittel- und langfristig den Nutzen für alle besser gewährleisten kann, als nationale Wege.
Es wogt der Kampf um "Europa". Der EU-Skeptizismus macht sich breit. Aber bitte nicht übertreiben, im EU Parlament sind von 751 sitzen 137 von EU-Skeptikern besetzt, andere Quellen sprechen von bis zu 225, also 18%, bzw. 30%, das ist ein kräftiges Signal, das treibt hoffentlich die EU-Befürworter an, die Europa Idee pragmatischer weiter zu entwickeln und auszudifferenzieren. Schon Goethe wusste von der Kraft des Negativen:
"Des Menschen Tätigkeit kann allzu leicht erschlaffen, er liebt sich bald die unbedingte Ruh, drum geb ich gern ihm den Gesellen zu der reizt und wirkt und muss als Teufel schaffen..." Faust I , Vers 340
Ex- Minister Fischer sagte kürzlich (01.06.16 im ZDF) - und hier stimme ich überein - "was habe ich mich über das endlose Palaver in europäischen Institutionen gelangweilt und geärgert, aber dann dachte ich daran, früher hätte man nicht palavert sondern sich den Krieg erklärt. Dann bin ich wieder ganz zufrieden". Es ist auch so wie Helmut Schmidt mal sagte, gefährlich sind diejenigen in der Politik, die den Krieg nicht mehr erlebt haben, für sie ist er ein Abstraktum und dadurch doch irgendwie wieder eine Option. Des Weiteren meinte Fischer, egal wie die Sache "Brexit" ausgeht, die EU muss in ihren Strukturen und Prozessen auf jeden Fall überdacht werden, damit sich deren Effizienz und damit deren Akzeptanz verbessern.
Der gescholtene Mr. Cameron sagt etwas wofür die meisten Fakten sprechen, was offenbar vermeintliche Europa - Verteidiger nicht verstehen wollen: Europa braucht zunächst eine wettbewerbsfähige Wirtschaft, die Jobs kreiert, nur das rechtfertigt sie! Cameron hat recht. Wir in Deutschland schwimmen auf einem - durch Leistung gezeugten - Fettauge der Europa-Suppe. Von da lässt sich trefflich von Idealen schwärmen. Wie aus Berlin so auch aus Paris , der kriegerischen Vergangenheit geschuldet- ein guter Grund, sicher. Wenn sie helfen positiven Geist zu verbreiten, spielen sie eine wichtige Rolle. Aber Cameron spricht vom aktuell Wesentlichen.
Die Flüchtlingskrise scheint zu zeigen, dass Idealisten merkelscher Prägung also ohne den wichtigen Schuss Pragmatismus keine Rezepte mit nachhaltiger Akzeptanz bieten. Umgang mit Flüchtlingen ist "high politics" und daher zentrales Souveränitätsthema, im Gegensatz zu "low politics" wie Feinstaub. Und wenn man hier nicht anerkennt, dass Länder wie Polen, die selbst schon 5% der arbeitsfähigen Bevölkerung ins Ausland schicken müssen, keine Flüchtlinge aufnehmen will ist naiv. Natürlich müssen diese einen finanziellen Beitrag leisten, z.B. für gut geführte Auffanglager in Griechenland und Italien. Die EU muss lernen ihre Maßnahmen zuende zu denken und Verordnungen, Richtlinien und Beschlüsse auch einem Stresstest unterziehen: wie wirken sie, wenn riesige Fallzahlen zu erwarten sind.
Er wird niemals enden, der Abwägungsprozess, was von den "high politics" - die jede Generation anders wahrnimmt,- auf die vierte Ebene, die der EU-Institutionen gehoben werden soll, also über die kommunale, regionale und nationalstaatliche Ebene hinaus. Das mag man bedauern, es ist aber so im Leben und daher nicht böse sondern Evolution.
Europa ist nicht schlechter geworden sondern der globale Wettbewerb härter. Und gegen den kann die EU nicht primär mit einer "sozialen EU" bestehen. Globalisierung als freier Handel ohne Regeln, man denke nur an den gigantischen Handelsbilanzüberschuss Chinas gegenüber der EU, das muss auch überdacht werden, denke ich. Aber die Ökonomie mit ihren schöpferischen Kräften ist die Basis, das sollten die Europa-Schwärmer bzw. die radikalen EU-Skeptiker endlich begreifen.
Es ist richtig: Abstimmung über mehrere Ebenen, bei sich überkreuzenden Zuständigkeiten und im Dreieck der wichtigsten Institutionen, EU Parlament, Kommission und Rat, sind auf Anhieb nicht mehr zu durchblicken. Das ist ein noch ungelöstes Problem. Und eine EU-Bringschuld! Direkte Wirkungen wie passfreies Reisen ist leichter zu vermitteln wie eine Vereinfachung des Zulassungsprozedere für Medikamente in der EU.
Vergessen wir nicht, jede Verordnung die von Brüssel erlassen wird, muss zunächst auf Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit geprüft werden. Die nationalen Parlamente haben das Recht, wenn ein Drittel der Mitgliedsländer glaubt, die Subsidiarität sei verletzt, solche Verordnungen zu verhindern. Von den Abertausenden Verordnungen der letzten fünfzehn Jahre wurden kaum drei Dutzend angefochten. Das gehört auch zur Wahrheit. Dass die EU Institutionen nicht begreifbar machen können, dass es Tausender Verordnungen und Richtlinien bedarf, damit die großen fünf Freiheiten des Binnenmarktes auch funktionieren, ist eine Tragik.
Die Haltung der Briten zum Brexit gibt Hoffnung, schaut man sich die Meinungen nach Altersgruppen an, hier ist eine pro-europäische Tendenz deutlich abzulesen:
Gut Ding braucht Weil, in 40 Jahren wird die Einstellung zur EU eine andere sein. Der EU-Gedanke von Lissabon benötigt viel mehr Zeit und Differenziertheit. Soviel Realismus ist aufzubringen, wer die Zeit nicht hat und unablässig falsche Erwartungen schürt, schadet - nach meiner Meinung - der EU schwer.
Dr. Johannes Rauter 08.06.2016